Sicher kennen die meisten den YouTube-Kanal Tactical-Dad. Noch mehr sind wahrscheinlich mit dem gleichnamigen Blog vertraut. Der Blogger (und mittlerweile nun auch Vlogger) Tactical-Dad produziert dort viele tolle, interessante und manchmal auch witzige Inhalte, vor allem zum Thema Waffenrecht.
Ich lese sowohl den Blog gerne, als auch bin ich auf dem Kanal Abonnent seit der ersten Stunde. Es gibt dort allerdings auch zwei Videos, die ich überhaupt nicht mag. Und es sind sogar einige der ersten, die auf dem Kanal überhaupt erschienen sind.
"Rückdrucklader" gibt es nicht! (Mit Norinco NP22 und Heckler & Koch SFP9-SK) - eines der ersten Videos auf dem Kanal
Das erste Video trägt den Titel "Rückdrucklader" gibt es nicht! (Mit Norinco NP22 und Heckler & Koch SFP9-SK). Durchsucht man Tactical-Dads Inhalte nach dem Stichwort "Rückdrucklader", findet sich noch ein zweites, ähnlich kurzes Video: Der "Rückdrucklader" Mythos wird mit Fachliteratur widerlegt.
Was direkt auffällt: Bei diesen beiden Videos ist die Kommentarfunktion deaktiviert. Eher ungewöhnlich, wenn man die sonstigen Inhalte des Kanals kennt.
Die Videobeschreibung gibt Aufschluss darüber, welches Problem Tactical-Dad mit den sogenannten Rückdruckladern hat:
"Der im Internet rum geisternde Begriff der "Rückdrucklader" ist frei erfunden und es gibt ihn in der Fachwelt nicht. Er wird nur von Menschen verbreitet, die weder eine Ausbildung in der Waffentechnik haben, noch über Fachliteratur verfügen. Ich habe daher diverse Beweise aus der Literatur zusammengetragen, die Beweisen, dass z.B. eine Walther PPK oder eine UZI Rückstoßlader sind. Extra für alle, die keine eigenen Fachbücher über Waffentechnik haben. Zum entsprechenden Bericht auf meinem Blog kommt Ihr hier: https://www.tactical-dad.com/waffen/s..."
Im Kern lässt sich Tactical-Dads Ansicht wie folgt zusammenfassen:
Es gibt keine Rückstoß- und Rückdrucklader. Die vermeintliche Kategorie der Rückdrucklader seien lediglich Waffen mit Masseverschlüssen, die ebenfalls durch das Rückstoßprinzip angetrieben werden würden. ("Diese Waffen funktionieren alle nach dem physikalischen Prinzip des Rückstoß.")
Es gibt keinen Unterschied zwischen Stoß und Druck ("Wenn es tatsächlich einen Unterschied, zwischen "Druck" und "Stoß" geben würde, [...]") und die Verwendung des Begriffs "Rückdrucklader" sei deshalb "verwirrend."
Gerade letzteres dürfte Physikern sauer aufstoßen, denn ein Kraftstoß (engl.: impulse, nicht zu verwechseln mit dem deutschen "Impuls") ist tatsächlich etwas völlig anderes, als ein Druck.
Ein Rückdrucklader (IMI UZI) und ein Rückstoßlader (Colt M1911A1)
Einleitend schreibt Tactical-Dad, dass die Abgrenzung zwischen Rückdruckladern und Rückstoßladern "den Hintergrund haben [soll], dass diese Waffen auch mit aufgesetztem Manöverpatronengerät funktionieren", was sich möglicherweise auf eine Anlage in Peter Danneckers hervorragendem Buch "Verschlusssysteme von Feuerwaffen" bezieht, auf das ich später noch eingehen will.
Dabei zäumt er das Pferd von hinten auf, denn, dass die Selbstladefunktion von Rückdruckladern bei aufgesetztem Manöverpatronengerät und Kartuschenmunition erhalten bleibt, und bei Rückstoßladern nicht, ist lediglich eine Konsequenz, die sich aus den unterschiedlichen Antriebsarten beider Systeme ergibt. Sie ist aber nicht selbst das Merkmal, das eine Unterscheidung sinnvoll macht!
Dieses Beispiel soll lediglich dazu dienen, anschaulich zu illustrieren, dass eines von beiden Systemen darauf angewiesen ist, eine Masse zu beschleunigen, um die Selbstladefunktion aufrecht zu erhalten (Rückstoßlader), das andere nicht (Rückdrucklader), da es sich die Spannkraft der Pulvergase im Lauf zunütze macht, die sich hinter dem Projektil aufbaut und die über die Patronenhülse, die wie eine Art Gaskolben fungiert, auf den Stoßboden drückt.
Weiterhin schreibt er: "Die Tatsache, dass eine Waffe mit Geschosspatronen und Kartuschenmunition funktioniert, rechtfertigt noch lange nicht zu behaupten, dass bei diesen Waffen das Rückstoßprinzip nicht gelten würde."
Es stimmt natürlich nicht, dass Rückdrucklader auf magische Weise den Impulserhaltungssatz außer Kraft setzen. Das dürfte wohl auch niemand behauptet haben. Aber hier darf nicht außer Acht gelassen werden, welche Körper während der Wechselwirkung wie beschleunigt werden: Beim Rückdrucklader ist der Lauf gehäusefest - beim Rückstoßlader ist es die Lauf-Verschlussträger-Gruppe jedoch nicht!
Da andere bereits besser und anschaulicher die Unterschiede der Antriebsarten beider Systeme aus naturwissenschaftlicher Sicht erklärt haben, als ich es könnte, will ich darauf nicht weiter eingehen, sondern lediglich festhalten, dass eine namentliche Unterscheidung sich schon allein dadurch rechtfertig, dass eben eine Vermengung beider Systeme unter einem einzigen Begriff "Rückstoßlader" verwirrend (da physikalisch nicht korrekt) und deshalb zu vermeiden wäre - und nicht umgekehrt!
Da Tactical-Dad in einem Nachtrag zu seinem ursprünglichen Blog-Post außerdem jede Menge Literatur ins Feld führt (deren Autoren leider ebenfalls keine trennscharfe Unterscheidung zwischen Antrieb durch Rück- bzw. Gasdruck und Rückstoß vornehmen), möchte ich es ihm hier gleichtun und mit zwei Standardwerken der Waffentechnik argumentieren.
Im Eingangs bereits erwähnten Buch schreibt Dannecker auf S. 595 im Abschnitt "Warum die Selbstladepistole P38 (P1) kein Rückdrucklader ist" (man beachte die Verwendung des fraglichen Begriffs!):
"Grundsätzlich ist bei der P38 (P1) und ähnlichen Systemen der Gasdruck als solcher mittelbar (aber nicht unmittelbar !) veranwortlich für die Einleitung der halbautomatischen Waffenfunktion."
Und weiter:
"Von einem ( Verschluß )-Eigenantrieb durch den direkt wirkenden Gasdruck kann nicht gesprochen , denn bei der P38 und artverwandten Systemen gilt:
Ohne Geschossbewegung kein Antrieb der noch zusammenhängenden Rohr-Verschlußkörpergruppe.
Nur durch die Umwandlung des Gasdruckes p in eine Bewegungsgröße i1 + i2 erfährt die Rohr-Verschlußkörpergruppe mR + mVK ihre Bewegungsgröße."
Um das zu verdeutlichen führt Dannecker das obige Beispiel mit dem Manöverpatronengerät an:
"Beim Einsatz von Platz- oder Manöverpatronen genügt in der Regel bei einer Waffe mit kraftschlüssig - dynamisch verriegeltem Verschluß (z.B. MP2-Uzi) zur Aufrechterhaltung der automatischen Waffenfunktion eine Querschnittsverringerung an der Rohrmündung durch ein sogenanntes Üb- oder Manöverpatronengerät. Jedoch bei Systemen ohne Üb- oder Rückstoßverstärkerdüse (z.B. im Maschinengewehr MG42 / MG3 enthalten) mit beweglichem Rohr und formschlüssig verriegeltem Verschluß wird die Waffenfunktion nicht aufrechterhalten."
Verschlusssysteme von Feuerwaffen und die Ergänzungsbände 1 und 2 sind keine leichte Kost, aber trotzdem umso lohnenswerter
Tactical-Dad stellt das Waffentechnische Taschenbuch der Firma Rheinmetall vor
Zu guter letzt bestätigt uns Peter Dannecker auch, dass der Begriff des Rückdruckladers durchaus seine Existenzberechtigung hat:
"Bei kraftschlüssig - dynamisch verriegelten Systemen ( MP2 - Uzi , G3 Mp5, P9 usw. ) könnte der Begriff 'Rückdrucklader' durchaus angewandt werden. Hier wirkt ja der Gasdruck in der Tat direkt auf Hülsen- bzw. Stoßboden, 'da wird zurückgedrückt'."
Auf diese Nutzung der Patronenhülse, die bei Rückdruckladern quasi als eine Art Gaskolben fungiert, ist auch zurückzuführen, dass viele Fachbücher Waffen dieser Konstruktionsweise den Gasdruckladern zuordnen. Auch hiermit dürfte Tactical-Dad wohl so seine Probleme haben, denn nicht nur sind seiner Ansicht nach alle Rückdrucklader eigentlich Gasdrucklader, sondern können auch keine Gasdrucklader sein:
"Jeder der wenigstens schon mal eine Waffensachkunde absolviert, oder Wehrdienst geleistet hat, kennt den Unterschied zwischen Rückstoß- und Gasdrucklader."
Eines dieser Bücher ist Waffentechnische Taschenbuch von Rheinmetall. Genau über dieses Buch veröffentlichte Tactical-Dad erst vor kurzem ein Video auf seinem Kanal, in dem er dieses als "tolles Buch" und im Titel sogar als "Legende der Waffentechnik Bücher" lobt - natürlich nicht unbegründet, aber es wirft doch die Frage auf, warum er sich in Sachen Rückdrucklader dann nicht den Autoren des Kapitel 7 anschließt?
Dort findet man in der Abbildung 701 nämlich eine Einteilung der automatischen Schusswaffen - und siehe da, dort findet man unter den Waffen mit Verschlussantrieb durch Gasentnahme aus dem Rohr (d.h. Gasdrucklader) solche mit gehäusefestem Rohr und Masseverschluss ohne Verriegelung. "Verschlussantrieb über Patronenhülse", heißt es dort weiter. Es handelt sich um unsere alten Freunde, die Rückdrucklader!
Das alles soll in erster Linie gar keine Kritik sein, sondern vielmehr ein Plädoyer für die Verwendung von Begrifflichkeiten, die nicht nur die gemeinsame Verständigung ermöglichen, sondern auch die Realität bestmöglichst widerspiegeln.
Schematische Einteilung der Selbstladewaffen im Waffentechnischen Taschenbuch von Rheinmetall